Exlibris des Monats für den Februar 2023 – Philipp Roger Keller für Dr. Emil Kunze

Exlibris des Monats Februar 2023 – Philipp Roger Keller für Dr. Emil Kunze, 1994, Aquatinta

Ein sehr zurückhaltendes, unaufgeregtes Blatt – es verdient eine aufmerk-same Betrachtung.
Der erste Eindruck: Keine Farben springen ins Auge, man sieht nur Schwar-zes und verschiedene Graustufen. Der nachdenkliche Blick eines Mannes geht in die Ferne, als wäre ihm etwas Kostbares abhandengekommen. Sein ernstes, asketisch wirkendes Antlitz lässt vermuten, dass tiefgreifende Probleme das Leben überschatten. Die Gesichtszüge gehören einem Künst-ler von Weltgeltung. Emil Orlik hat ihn mehrfach skizziert und auf einer exzellenten Radierung wiedergegeben, Auguste Rodin verewigte ihn mit einer eindrucksvollen Bronzebüste.
Zusammen mit den Textzeilen auf dem Exlibris könnte man zunächst an einen bekannten Schriftsteller denken. Aber man begegnet seinen Porträts erst bei der Beschäftigung mit berühmten Komponisten. So sind sie doch häufig auf Booklets von CD-Aufnahmen, genauso in Büchern oder auch in Fernsehsendungen zu finden.
Diese Aquatinta-Radierung zeigt uns den Komponisten Gustav Mahler in einem seitlich beleuchteten Dreiviertel-Profil. Aufgewühlte Wolken am Himmel umhüllen sein Haupt, womit ihn der Schweizer Exlibriskünstler Philipp Roger Keller für den Arzt Dr. Emil Kunze als einen der ganz Großen im Musikgeschehen inszeniert. Derartige Präsentationen, in denen eine Künstlerpersönlichkeit in den musischen Olymp aufgenommen wird, kennen wir von vielen Bücherzeichen zu Ehren der großen Vorbilder Ludwig van Beethoven und Richard Wagner. Unter einen weit nach unten gezogenen Horizont hat Philipp Roger Keller im Vordergrund eine Wiese mit einem kleinen Häuschen und zwei hohen Bäumen nahe an einem Fluss oder einem See platziert. Die Sicht reicht über das Wasser zum gegenüberliegenden bewaldeten Ufer. 

1860 in Kalischt/Böhmen geboren, begann Gustav Mahler mit gerade erst 20 Jahren eine absolut beispiellose Karriere als Dirigent und Manager. Über viele Stationen führte ihn sein Weg schließlich bis nach Wien und an die Met in New York. Während der Jahre 1897–1907 erreichte Gustav Mahler schon ein großes internationales Ansehen. Im Sommer 1893 kam er nach Stein-bach am Attersee, wo seine ganze Kreativität als Komponist in dieser herrlichen Landschaft verstärkt zum Ausdruck kam und er Teile seiner 2. Symphonie in Noten setzte. Um nicht abgelenkt zu werden, ließ er sich im Jahr danach auf dem Gelände des Gasthofs „Zum Höllengebirge“ einen Musikpavillon mit Ofen, Schreibtisch, Sessel und einem Flügel einrichten. Vom Aussehen und von der Lage her vermittelt uns die Exlibris-Darstellung einen realistischen Eindruck. Das private „Komponierhäusl“ – es ist heute immer noch zu besichtigen – regte ihn, fasziniert von dem unvergleichlichen Ausblick auf den See und die Berge, zur Komposition seiner 3. Symphonie an. Weil man ihm als Sohn jüdischer Eltern immer wieder Steine in den Weg legte, trat er 1897 zum Christentum über. Er ließ sich taufen und übernahm eine gut dotierte Stelle als Direktor der Wiener Hofoper.
Das alles liest sich wie eine Aufzählung privater und künstlerischer Höhe-punkte eines erfolgreichen Lebens. Das Exlibris hingegen gibt eine mit Tragik verbundene Stimmung wieder und weist auf Geschehnisse hin, die erst Jahre später zu extremen psychischen Belastungen führen. Damit im Zusammen-hang ist auch der kurze Text im Exlibris zu verstehen.
Aus der 1902 geschlossenen Ehe mit der 22 Jahre jüngeren Alma Schindler gingen zwei Töchter hervor. 
Während sich Alma um die Familie und Kinder sorgte, dachte der Operndirek-tor und nun erfolgreiche Komponist im Sommerurlaub nur an neue musikali-sche Werke. In Maiernigg am Wörthersee ließ Gustav Mahler eine Sommer-villa unten am Ufer und ein neues Komponierhäuschen in einer idyllischen Waldlichtung für seinen kreativen Rückzug errichten. Nach Vollendung der Symphonie Nr. 4. entstanden dort auch die Nr. 5 bis 8.

1907 aber wird für Gustav Mahler zum Unglücksjahr. Mit 4 Jahren stirbt seine kleine Tochter Maria an Diphtherie. Dies stürzt ihn in tiefe Verzweiflung und er sieht sich veranlasst, sein lieb gewonnenes neues Refugium für immer aufzugeben. Dazu kommt eine schockierende Diagnose: Herz-klappenfehler. Auch seine Frau Alma leidet unter gesundheitlichen Pro-blemen. Während einer Kur beginnt sie eine Affäre mit dem Architekten und späteren Bauhaus-Gründer Walter Gropius. Dies bleibt Mahler nicht ver-borgen. Sein Herz ist gebrochen. Dennoch tritt er eine Stelle als Chefdirigent der Metropolitan Opera in New York an. Zwischenzeitlich kehrt er immer wieder zurück. In seinem dritten und letzten Komponierhäuschen auf dem Trenkerhof in Altschluderbach, nahe Toblach in Südtirol, entsteht ab 1908 in der Stille der Dolomiten sein Spätwerk.
Zunächst lehnte er es ab, an die Komposition einer 9. Symphonie heran-zugehen. So viele berühmte Komponisten vor ihm waren während oder kurz nach Vollendung ihrer „Neunten“ gestorben. Das neue Werk nannte er deshalb „Das Lied von der Erde“. Damit schien aber ein Bann gebrochen zu sein. Nun traute er sich an seine „Neunte“ heran, die er auch vollenden konnte. Eine „Zehnte“ wurde nur in Teilen fertig. Auf einer der Partiturskizzen finden sich Randbemerkungen, darunter auch die auf dem Ex Musicis zu lesenden verzweifelten Worte: 

„Du allein weißt, was es bedeutet Ach!  Ach!  Ach!
Leb wol, mein Saitenspiel Leb wol  Leb wol  Leb wol“ 

Mit „Saitenspiel“ meint Gustav Mahler seine Frau Alma, in Briefen aus diesen Jahren verwendet er dieses Kosewort. Warum er „wol“ ohne h schrieb, bleibt verborgen.
1911 stirbt Gustav Mahler mit 50 Jahren in Wien. Penicillin oder andere Antibiotika, die ihm hätten helfen können, waren noch nicht entwickelt.

Heinz Neumaier

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