Exlibris des Monats September 2022: Herbststimmung – Verlust und Dankbarkeit –

Marina Kupkina für Helga Becker-Bickerich, 2019, Radierung

Marina Kupkina hat auf ihrem Exlibris für Helga Becker-Bickerich auf realistische Art und Weise eine kleine Alltagsszene ins Bild gesetzt, wie man sie auch in einer Kinderbuchillustration finden könnte. Ein Junge, er mag so um die 10 Jahre alt sein, sitzt auf einer schmalen Bank am Ufer eines idyllischen, unberührt wirkenden kleinen Sees oder eines Flusses und hat seine Angel ausgeworfen. Anscheinend steht dem kleinen Angler ein großer Erfolg bevor, denn die Angel reicht nicht mehr weit hinaus ins Wasser, sondern ist stark nach unten gezogen, und auf der Oberfläche des Wassers sind bereits die heftigen kreisförmigen Bewegungen eines gefangenen Fisches wahrzunehmen. 

Auf dem Exlibris scheint der Sommer sich seinem Ende zu nähern. Noch ist es warm, der Junge trägt kurze Hosen und scheint barfuß zu seiner Angel-stätte gegangen zu sein. Aber die Farben der Natur sind nicht mehr sommer-bunt, die Sonne leuchtet nicht mehr gelb, am Himmel stehen Wolken, die Bäume sind vom Wind gebeugt, auch das Schilf wird bereits braun und die nicht mehr von einer hochstehenden Sonne beschienene Wasseroberfläche ist dunkel, blaugrün, blauschwarz sogar bis auf die aufschäumenden Wasserkronen, die den dichten Wolken am Himmel entsprechen. Die Natur-stimmung zeugt vom Abschied vom Sommer. Im Hintergrund sieht man ein kleines, einfaches Häuschen, irgendwo dort hinten wird der Junge leben und in dem Häuschen werden die Früchte des Sommers und des Herbstes lagern oder eingemacht worden sein und im Winter Freude bereiten.

Die beschriebene Situation enthält trotz ihres positiven narrativen Inhalts – einen unmittelbar bevorstehenden Anglerfolg – etwas Melancholisches. Denn der Junge zeigt keine Freude, jubelt nicht, sondern sitzt eher traurig, nachdenklich auf seiner Bank. Und neben ihm sieht man im Schilf aufschei-nend auf der Bank den Schatten eines erwachsenen Mannes sitzen, der die frühherbstlichen Farben der Natur, also das Grüne, Blaue, Braune, in etwas helleren Nuancen widerspiegelt. Seine Konturen sind deutlich umrissen, aber er bleibt schemenhaft, man kann ihm kein Alter zuschreiben, erkennt keine Gesichtszüge. Aber man spürt, dass er dem Jungen sehr zugewandt, zugeneigt ist; seine Haltung zeigt, dass er das Kind beschützt. 

Die Eignerin hat sich, wie sie mir erzählte, von der 1980 in Kiev geborenen Künstlerin ein Exlibris zu dem Thema Tod und Verlust erbeten. Dieses Thema wollte sie aber nicht in dem häufigen Memento-mori-Zusammenhang verortet sehen, sondern verbunden mit positiven Gefühlen, wie dem der Freude und der Dankbarkeit dafür, die verstorbene Person gekannt und an der Seite gehabt zu haben. Marina Kupkina habe ihren Wunsch sofort aufgreifen können, indem sie von einer für sie sehr persönlichen Erfahrung ausgegangen sei und der Trauer um den Tod ihres Großvaters gestalterisch Raum gegeben habe.

Die vielschichtigen Gefühle angesichts eines Verlustes auszudrücken, ist Marina Kupkina auf sehr anrührende Weise gelungen, indem sie sie auf dem Exlibris genau auf zwei Ebenen zeigt, zum einen auf der Ebene der Natur-stimmung mit ihren kälteren Farben, zum andern auf der Ebene der Erzäh-lung: wie der kleine Junge alleine auf der Bank sitzt und konzentriert und bedachtsam das tut, was wohl der verstorbene Mann ihm beigebracht hat. Und hinter sich spürt er die schützende Anwesenheit des Gestorbenen (dass es sich um den Großvater handelt, kann man wohl unterstellen), der liebevoll den Arm um ihn legt. Der Großvater ist real nicht mehr am Leben, aber noch ist er da – im Kopf, im Tun und im Herzen des Kindes. Das Wasser auf dem unteren Bildrand umgibt das Kind und den Schatten des Toten, bildet einen Kreis um sie, in dem sie sich nahe sein können. Diese Nähe zwischen ihnen wird noch dadurch unterstrichen, dass der Junge und sein Spiegelbild im Wasser farblich braun sind und dass dieses Braun etwas heller auch für den Schattenkörper des Mannes, der kein Spiegelbild mehr im Wasser hat,  

gewählt worden ist.  Erwähnt werden sollte in diesem Zusammenhang noch, dass das Blatt zu einer Serie von Exlibris gehört, die den Titel The Memories from the Heart tragen.

Die Radierung ist bereits 2019 entstanden, also drei Jahre, bevor die Ukraine angegriffen und mit Krieg überzogen wurde. Wer sich heute das Blatt anschaut, wird für das Dargestellte wohl andere Deutungen finden, er wird hier ein Beispiel für traumatische Kinderschicksale sehen, von Kriegskindern, die erleben müssen, was ein Kind nicht erleben sollte, von Waisenkindern, Halbwaisen, geflüchteten Kindern, die nicht mehr in ihrer gewohnten Welt groß werden können. Das ist ja letztlich eines der Merkmale gelungener künstlicher Darstellung: dass ihre Aussage nicht auf eine einzige These, ein einziges Thema, eine einzige Zeit begrenzt bleibt, sondern transferierbar ist auf andere, vergleichbare Erfahrungen in der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart und Zukunft. 

So ist es nicht verwunderlich, dass dieses Exlibris als Bildmotiv für das Plakat der Sonderausstellung When the guns speak, the muses are silent – Exlibris aus der Ukraine in der Sammlung Museum Schloß Burgk gewählt worden ist. Dort können Sie die Ausstellung zwar nur noch in den ersten Septembertagen besichtigen, aber im Netz (Museum Schloß Burgk (https://www.schloss-burgk.de) oder auf der Website der DEG) können Sie sich weiterhin darüber informieren.

Ulrike Ladnar

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