Exlibris des Monats April 2023 – Susanne Theumer: Zu Hugo von Hofmannsthals Gedicht „Vorfrühling“

Susanne Theumer: Exlibris für Ulrike Ladnar, 2012, Radierung, 100 x 115 mm 

25. März. Immer noch sind die meisten Bäume vor meinem Fenster kahl und die Oberfläche ihrer Äste wirkt auf eigenartige Weise alt, sehr grau, voll schwarzgrünen Mooses. Und der Himmel ist zwar manchmal sonnig, aber dann ist es kalt dabei, häufiger sehe ich ihn dunkel, gelegentlich regnet es. So auch jetzt gerade. Ein starker Wind löst die Regentropfen auf meinem Fenster in schräge punktierte Striche auf. Nein, so richtig scheint der Frühling seine Aufgaben an den Bäumen noch nicht wahrzunehmen, obwohl er das meteorologisch schon seit über drei Wochen und kalendarisch seit etlichen Tagen tun sollte. Blumen und Büsche hingegen hat er fleißig erblühen lassen. Und jeden Morgen blickt man erwartungsvoll auf die Äste der hohen Bäume. An irgendeinem Astende muss sich doch endlich eine der spitzen, fast noch grauen Blattknospen öffnen. Vielleicht morgen. 

Hugo von Hofmannsthal hat diese diffus dämmrige und doch erwartungs-sichere Zeit zwischen Winter und Frühling 1892 in seinem Gedicht Vorfrühling beschrieben, einem meiner Lieblingsgedichte. Er beschreibt darin, wie der Frühlingswind endlich seinen weiten Weg vom Süden, wo schon Akazien blühen, her zu ihm gefunden hat. Zwar sind in dem Gedicht 

die Alleen, wahrscheinlich die eines am Stadtrand stehenden Schlosses, 
noch kahl, aber der Frühlingswind bringt Frühlingserfahrungen aller Sinne, -die er auf seinem Weg gesammelt hat, mit: visuelle (Röte), auditive (Flöte), haptische (berührt), olfaktorische (Duft) oder sogar gustatorische (die Lippen). Seltsame Dinge scheinen das zu sein, voller aufgeregter und aufregender emotionaler und erotischer Momente, solche der Liebe, des Geheimnisses, des Genusses, aber auch solche des Leids und des Todes. Und bei vielen assoziiert man den Abend oder die Nacht. 

Susanne Theumer hatte für ihre Kaltnadelradierung dieses Gedicht als Vorgabe.

Wenn man ihre Deutung des Gedichts betrachtet, denn es ist eher eine Deutung als eine Illustration, so steht auf den ersten Blick eindeutig die erste Strophe im Zentrum. In der Bildmitte befindet sich zentral eine Allee mit kahlen Bäumen, perspektivisch zu einem Dreieck sich verengend, dahinter der Horizont, in dem sich zwischen Bäumen auch eine Stadt, nicht identifizierbar, abzeichnet. Der Wind treibt bei Hofmannsthal blasse Schatten vor sich her; auf der Radierung scheint die metaphorische Bedeutung der blassen Schatten hinter einer konkreten Wahrnehmung der tatsächlichen Schatten der Alleenbäume zurückgenommen zu sein. Auf den ersten Blick also wirkt die Darstellung entemotionalisiert. Da glühen keine atmenden Glieder.

Aber ist das wirklich so, so kalt, so nüchtern? Was ist es denn, das links von den Alleenbäumen unruhig als Fleckchen oder Striche aufflackert, keine Büsche sind es, keine identifizierbaren Blumen, keine Gräser. Aber etwas Unruhiges, etwas, das wachsen wird, das ist da und wird sich entfalten. Und warum scheinen die Bäume auf der rechten Alleenseite fast schattenlos im Vergleich zu denen links? Ist es noch früh am Morgen, denn da wären die langen Schatten zu erklären? Der Himmel jedoch ist hell wie am Tag oder in der Tagesmitte. Und ist es wirklich eine Stadt hinten am Horizont oder sind es durch die Bäume und ihre Schatten verursachte Trugbilder oder auch Träume von den rätselhaften, halb unbewusst wahrgenommenen seltsamen Dingen, deren Vorahnung der Frühlingswind vor sich herweht? Und wer ist die Gestalt, die sich auf der Allee vorwärts bewegt und was treibt sie an? Ist es der Dichter selbst? Die Künstlerin? Oder einfach jemand, der den Vorfrühlingswind spürt und ganz schnell zu dem geheimnisvollen Duft in der Stadt gelangen will, um all die Dinge, die so verlockend angedeutet werden, zu erleben?

Bei Susanne Theumer scheint der Frühling vor allem eine lichte Jahreszeit zu werden, denn in das auf der linken Seite sich zum Betrachter hin öffnende Dreieck bricht eine klare Helligkeit ein, die einen sofort emotional berührt und mit Zuversicht erfüllt. Die Sehnsüchte, die dieses Licht auslöst, wirken moderner als die des jungen Dichters von vor 130 Jahren. Der Wanderer scheint trotz starken Windes zielsicher aktiv werden zu wollen, vielleicht ist er seiner Einsamkeit überdrüssig. Mit schönen Sinneseindrücken allein möchte er sich nicht begnügen. 

Der Dichter Hugo von Hofmannsthal war 18 Jahre alt, noch Schüler, als er das Gedicht geschrieben hat. Schon um 1900 hört er auf, Gedichte zu verfassen, und widmet sich Erzählungen, Dramen, Komödien, Libretti und Essays. Aber in all seinen zu Lebzeiten veröffentlichen Sammelbänden hat er dieses Gedicht an den Anfang gestellt. Vorfrühling eines umfangreichen Oeuvres sozusagen.

 

Susanne Theumer ist eine bei Grafik- und Exlibrissammlern schon sehr bekannte Künstlerin, auch Liebhaber illustrierter Bücher schätzen ihre eigenwilligen Arbeiten sehr. Neben vielen anderen Preisen hat sie 2018 den 1. Preis des Exlibris-Wettbewerbs der DEG gewonnen. 

                                                                                                           (Ulrike Ladnar) 

Hugo von Hofmannsthal:

Vorfrühling

Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.

Er hat sich gewiegt,
Wo Weinen war,
Und hat sich geschmiegt
In zerrüttetes Haar.

Er schüttelte nieder
Akazienblüten
Und kühlte die Glieder,
Die atmend glühten.

Lippen im Lachen
Hat er berührt,
Die weichen und wachen
Fluren durchspürt.

Er glitt durch die Flöte
Als schluchzender Schrei,
An dämmernder Röte
Flog er vorbei.

Er flog mit Schweigen
Durch flüsternde Zimmer
Und löschte im Neigen
Der Ampel Schimmer.

Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.

Durch die glatten
Kahlen Alleen
Treibt sein Wehn
Blasse Schatten.

Und den Duft,
Den er gebracht,
Von wo er gekommen
Seit gestern Nacht. 

                                                         

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