Exlibris des Monats Dezember 2022: Frohe Weihnachten!

Oskar Kokoschka: Exlibris für Lilly und Arthur Fürst, Tuschzeichnung

Ein Exlibris für den Monat Dezember auszusuchen, ist besonders in diesem Jahr nicht gerade die einfachste Aufgabe. Denn natürlich sollte es ein Blatt sein, das auf die Weihnachtstage einstimmt. Eine Duden-Recherche hat übri-gens ergeben, dass froh das am häufigsten gebrauchte Attribut für Weih-nachten ist, an dritter Stelle folgt fröhlich.1 Und genau das möchten wir allen Lesern und Leserinnen, nicht nur allen Exlibris-Interessierten, wünschen: Frohe Weihnachten! Aber etwas sperrt sich dagegen, ein Exlibris oder PF auszuwählen, das eine prächtig geschmückte, frisch aus dem Wald geholte Tanne zeigt, einen Berg Geschenke darunter, glückliche Kinder im Kreis einer sorglosen Familie daneben, einen reich gedeckten Tisch – und im Zimmer ist es hell, warm und friedlich. So, als wäre alles normal auf dieser Welt.
Aber ein schönes aussagekräftiges und selten besprochenes Exlibris sollte es schon sein, und ausgewählt habe ich ein Exlibris von Oskar Kokoschka für Lilly und Arthur Fürst.2
Das Exlibris zeigt zentral eine sitzende geflügelte Gestalt, die mit großer Innigkeit eine Taube in den Armen hält. Die Taube erwidert diese zärtliche Geste, indem sie mit ihrem Schnabel die Nase des ihr zugeneigten, liebevoll und heiter blickenden Kopfes berührt. Links davon sieht man eine zweite Taube mit einem Olivenzweig im Schnabel fliegen. Oben rechts erblickt man einen Himmelskörper, die Sonne. Ansonsten sind viele Schraffierungen zu sehen, seien sie in Form von Notenlinien oder als Markierungen eckiger, so-gar spitzer Formen, von denen manche teilweise wie unbewusst angetrieben gezeichnet ausschauen. Über der Zeichnung sind die Namen der beiden Eig-ner LILLY und ARTHUR, darunter FÜRST verzeichnet, ganz unten – ebenfalls links, die kräftige Initiale OK sowie das EX und getrennt davon rechts das LIBRIS. Die kleine Szene ist in einen mit schnellem Strich gezeichneten Rah-men gesetzt, und unter dem Rahmen erfolgt eine erneute, doppelte Zuschrei-bung OK OKOKOSCHKA FECIT.

Das Blatt von Oskar Kokoschka ist nicht so leicht eindeutig zu beschreiben. Und das, was man sieht, kann auch anders gesehen werden. Also trauen Sie Ihrer eigenen Sichtweise, wenn Sie etwas anders sehen, als ich das tue. Selbst in den beiden größeren Beiträgen3 zu Kokoschkas Exlibris wird das Blatt unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet. Das betrifft nicht nur die starken geometrischen Formen und Striche, sondern auch die Gestalt. Mir kommt sie sehr weiblich vor, vielleicht auch kindlich, vielleicht engelhaft, auf jeden Fall geflügelt, dort wird sie auch als Mann oder als Genius interpretiert. Diese unterschiedlichen Deutungen muss man akzeptieren, haben wir es doch hier mit einem Exlibris zu tun, das eindeutig im Expressionismus zu verorten ist, und das um 1910, als im Exlibris ja sonst allenthalben noch viele Jahre lang der Jugendstil gepflegt wurde. Und da in der expressionistischen Kunst bekanntlich das Dekorative, Gefällige, an der Realität und/oder einem Schönheitsideal Orientierte aufgegeben wird zugunsten einer radikalen Aus-drucksfunktion des Kunstwerks, ausgelöst durch die subjektive Wahrneh-mung und Empfindung des Künstlers, werden auch andere, subjektivere Sichtweisen möglich. Traditionelle Perspektiven werden durch Multiperspek-tivität, traditionell Schönes durch Markantes, Realistisches durch Reduzie-rungen wiedergegeben. Die Darstellung der Außenwelt öffnet sich der Innensicht des Künstlers – und dadurch auch der Wahrnehmung der Rezipienten.
Für mich ist die Aussage auf Kokoschkas Tuschzeichnung die Darstellung der Möglichkeit glücklicher Augenblicke in einer als schroff und bedrohlich wahrgenommenen Welt. Die beiden Tauben lassen unwillkürlich an die von Noah nach der Sintflut in die Welt geschickten Tauben denken, von denen eine mit leerem Schnabel, die zweite gar nicht und die dritte mit einem Olivenzweig zurückkam. Die Taube gilt seitdem als Symbol der Versöhnung 

und des Friedens. Die riesige Sonne kann von Hitzeplagen zeugen und auch die expressive Formensprache mit ihren vielen Kanten und Ecken lässt Assoziationen an Unwirtlichkeit, wo nicht sogar Zerstörung zu. Doch in all dem kann sich der eine friedliche Augenblick der Zuwendung, der Liebe, des Respekts behaupten. Und das ist eine gute weihnachtliche Botschaft, auch für dieses Jahr.
Was das vorliegende Exlibris4, dessen Bildinhalt laut der mir bekannten Exlibrisliteratur bislang nur als kleinformatige Strichätzung bekannt ist, unfreiwillig besonders als Mahnung und Friedensgruß zu Weihnachten geeignet macht, ist die Tatsache, dass es auf ein Stück braunes Packpapier mit dem amtlichen Stempel Kriegszuschlag über seiner unteren rechten Ecke aufmontiert ist.

Ich wünsche Ihnen im Namen der DEG friedliche Weihnachten!
Ulrike Ladnar

1 Duden | Zusammensetzungen mit „Weihnacht“
2 Lilly ist eine Schwester des in Prag geborenen Schriftstellers Leo Perutz, der als Jude 1938 von Wien nach Palästina emigrierte. Seine Schwester emigrierte nach Amerika.
3 Dr. Hans Ankwicz-Kleehoven: Exlibris von Oskar Kokoschka, in: Öster-reichisches Jahrbuch für Exlibris und Gebrauchsgraphik, Band 38, 1949/51, Seite 18–22; Hansotto Zaun: Die Exlibris und Exlibrisentwürfe von Oskar Kokoschka, in: DEG-Jahrbuch. Exlibriskunst und Graphik, 2003, S. 57–62.
4 Vermutlich handelt es sich um einen Entwurf für die gedruckte Version. Darauf bin ich nach Hinweisen von Andreas Raub gekommen, der mir bei der Frage der Technik und des Zusammenhangs zwischen den beiden inhaltlich gleichen Blättern geholfen hat.

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