Exlibris des Monats Oktober 2022: Autumn‘s Dream –

Umberto Giovannini für Marina Stappen, polychromer Holzschnitt

Irgendwann in der ersten Septemberhälfte kündigte sich nach vielen sonnen-reichen und heißen Wochen der Herbst an. Es wurde abends früher dunkel und morgens später hell. Auf einmal nahm man abends beim Weggehen eine Jacke mit und beobachtete besorgt die Bäume, die sich zwar noch nicht färbten, aber aufgrund der langen Trockenheit bereits sehr viel dürres brau-nes Laub abwarfen. Und man begann, seinen Herbsttraum zu träumen … Oft beginnen diese Träume mit Versen aus alten Gedichten: Bunt sind schon die Wälder, / gelb die Stoppelfelder, / und der Herbst beginnt/ … Die Luft ist still, als atmete man kaum, / und dennoch fallen raschelnd, fern und nah, / die schönsten Früchte ab von jedem Baum/Der Nebel steigt, es fällt das Laub; / Schenk ein den Wein, den holden! / Wir wollen uns den grauen Tag / Vergol-den, ja vergolden/Gewaltig endet so das Jahr / Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten, / Rund schweigen Wälder wunderbar / Und sind des Einsamen Gefährten/ …*

So unterschiedlich unsere persönlichen Träume vom Herbst auch sein mögen, so werden sie doch einige erwartbare feste Elemente aufweisen, auf die schon die wenigen Verse oben hindeuten: den Farbenreichtum der Natur, die Aussicht auf reiche Ernten und den Genuss daran, die Vorahnung ruhigerer und einsamerer Zeiten …

Auch in Umberto Giovanninis Autumn’s Dream auf dem Exlibris für Marina Stappen tauchen solche Elemente auf: für die Ernte, für herbstliche Farben, für das aufkeimende Bewusstsein dunklerer Zeiten. Nur wird das, was in den zufällig ausgewählten Versen so ernst und feierlich und gewaltig daher-kommt, von Umberto Giovannini verspielt und etwas surreal ins Bild gesetzt. Giovannini benutzt nur Weiß, Braun (in unterschiedlichen Stärken) und Schwarz, um uns die seltsame und heitere Szene mit der müden Kuh und dem munteren Igel zu erzählen. Die Konstellation erinnert vage an die bekannte Fabel von Lafontaine, in der die ungleichen Kontrahenten, die musizierende Grille und die emsige Ameise, eine unterschiedliche Meinung

zur gerechten Verteilung der Güter des Sommers vertreten. Allerdings spielt die Moral bzw. Lehre der Fabel, die unterschiedliche Lebensentwürfe nicht unkommentiert lässt, hier keine Rolle. Denn hier tun beide einfach das, was ihnen gerade Freude macht. Die Kuh ruht sich nach ihrem Almabtrieb erst einmal aus, während der Igel mit den Früchten eher spielt, als sie zu ernten und dann sinnvoll für Notzeiten zu lagern. So hat er eine kleine Mandel wie Tabak in einen pfeifenähnlichen Zweig gesteckt und stolziert zufrieden herum. Über ihm schwebt ein Granatapfel und unter ihm hängt eine Rebe. Die hellen Kügelchen überall scheinen Oliven zu sein. Das mediterrane Frucht-angebot verweist auf das Herkunftsland des Künstlers, der 1969 in Morciano di Romagna geboren wurde. Von dem rein spielerischen Umgang mit typischen Herbstattributen zeugt natürlich auch die Tatsache, dass der Igel ja die Früchte der Bäume und Wiesen nicht braucht, sie verschmäht, da er sich bevorzugt von Schnecken, Regenwürmern, Spinnen und anderem kleinen Getier ernährt. Zudem überwintert er schlafend und benötigt somit eigentlich keine Reserve. Aber die letzten warmen Herbsttage will er noch heiter und kreativ genießen. Und die Kuh, die sich auf der sommerlichen Alm von Gras und duftenden Kräutern ernährt hat, findet jetzt ihren Platz in ihrem Stall, ihrem Winterdomizil, einem Stall, in dem sie hoffentlich artgerecht gehalten wird. Es wird dunkler sein, langweiliger. Wahrscheinlich träumt sie trotzdem (könnte sie denn träumen) von ihrem Sommerort.

Die Farben des Blattes werden von unten nach oben immer dunkler. Bei der Kuh am unteren Bildrand dominiert noch das reine Weiß, und eine witzige Idee ist es auch, den Kuhrücken wie einen Schneeberg im Winter sich erheben zu sehen. Der Igel hingegen hat nur noch wenige weiße Stacheln in seinem schwarzen Stachelfell.

Das fröhliche Treiben des Igels und das apathische Dösen der Kuh wirken je nach Befindlichkeit der BetrachterInnen gleichermaßen ansteckend und signalisieren, dass jeder in den beginnenden grauen Herbsttagen einfach das tun sollte, was ihm gefällt. Seinen eigenen Herbsttraum träumen.

Umberto Giovannini ist ein umfassend interessierter und aktiver Künstler, der sich ursprünglich bevorzugt mit Druckgrafik beschäftigte, und zwar sowohl mit freier Grafik, mit Bildvorlagen für Bücher und mit Exlibris. Doch das Spektrum seiner Interessen hat sich schnell erweitert, er betreibt ein Grafikatelier, das umweltfreundliche Materialien einsetzt, arbeitet als Designer, als Bühnenbildner, er baut effektreiche Maschinen für Installationen, ist im Film- und Medienbereich aktiv und konzipiert und realisiert allein oder in Gruppen große experimentelle Projekte, um nur einiges anzuführen. Zudem ist er an zwei Universitäten als Dozent tätig. Er ist außerdem seit 2016 Präsident der Renate-Herold-Czaschka-Stiftung, die Künstler fördert, die sich der Druckgrafik widmen. – Die Liste seiner Projekte, zu denen auch das Kuratieren großer Ausstellungen gehört, ist beeindruckend umfangreich. Das Exlibris ist dabei leider in den Hintergrund getreten. Doch im Oktober dieses Jahres hat einer seiner Exlibris-Holzschnitte uns noch einmal Freude gemacht, hoffe ich.

*Wenn Sie die Gedichte gerne einmal wieder in Gänze lesen wollen: in der Reihenfolge der Zitate sind die Verse aus: Salis-Seewis: Herbstlied, Hebbel: Herbstbild, Storm: Oktoberlied; Trakl: Verklärter Herbst

Ulrike Ladnar

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