Exlibris des Monats August 2022: – Julibert: Sommermond und Sehnsucht

Exlibris des Monats August 2022 – Julibert (= Joaquim Julibert Gual Baucis) für M. Gras Vila, Sommermond und Sehnsucht, 1919, Radierung 

Auf der Suche nach einem romantischen Exlibris, das uns in doch insgesamt belastenden und sorgenvollen Zeiten auch einmal die Stimmungen eines lauen Sommerabends wahrnehmen lässt und ein Bild für unsere Sehnsucht danach präsentiert und es uns erlaubt, uns einfach daran zu erfreuen, stieß ich auf das schöne Jugendstilblatt von Joaquim Julibert Gual Baucis, i.A. bekannt als Julibert, das dieser 1919 für den Eigner M. (=  Miguel) Gras Vila gestaltet hat, der sich um 1920 sehr viele Exlibris von Jugendstilkünstlern aus vielen Ländern Europas hat anfertigen lassen.

Man sieht eine junge Frau im Profil. Sie hat ihre Haare kunstvoll, aber trotzdem sommerlich locker im Nacken, zusammengebunden; die eine oder andere Haarsträhne löst sich. Sie trägt ein helles Gewand aus leichtem Stoff. Ihr einziger Schmuck ist eine Blume, die sie unter das Dekolleté gesteckt hat, vielleicht ist diese Blüte aus Stoff. Die junge Frau richtet ihren Blick geradeaus; wir sehen also nicht, was sie dort erblickt oder wen sie dort erwartet.

Über ihr steht ein voller Mond am nächtlichen Himmel. Er erleuchtet die schöne Frau und einen Brunnen hinter ihr, der eine Fontäne in die Luft aufsteigen lässt. Der hohe Wasserstrahl schimmert weiß im Mondlicht, ebenso ein Spruchband unter ihr, das – fast ein wenig zu kräftig in Relation zu der Zartheit der Szenerie – den Eignernamen zeigt. Das Spruchband löst sich an beiden Enden in kreis- und spiralförmige Windungen, die auf den ersten Blick beinahe den Eindruck von auf dem Band aufgehäuften kleinen Steinskulpturen erwecken. Fast meint man ein Grabmal zu sehen.

Aber wieso stellen sich so triste Assoziationen angesichts der anmutigen Frauengestalt in einer lauschigen Sommernacht ein? Ist es, weil sie einsam ist? Weil man nicht weiß, ob sie sich mit Trauer oder Sehnsucht von dem schönen Brunnen abgewandt hat, einem Brunnen, der aussieht wie ein städtischer Treffpunkt für junge Menschen in einem Park oder auf einem Platz in einer großen Stadt. Doch niemand ist da. Juliberts Brunnen, schaut man genauer hin, scheint irgendwo am Himmel zu schweben, ohne festen Boden, ohne Menschen um ihn herum. Und er ist so isoliert von weiteren architektonischen Elementen, wie die Frau isoliert von anderen Menschen ist.

Unterstützt werden Überlegungen über die latente Brüchigkeit und Doppel-bödigkeit der auf den ersten Blick so romantischen Situation durch das einzige von Julibert beigegebene Element aus der Natur: einen großen, reich verzweigten Trauerweidenast, der sich wie ein Schirm über die Frauenfigur rundet und sie so in ihrem Alleinsein schützt. Allerdings hat dieser Ast seine Blätter verloren, er symbolisiert also Vergänglichkeit, Verlust.

Mir fallen beim Betrachten Verse von Bertolt Brecht ein:

Denn wir sagen uns: In diesem traurigen Leben
Ist die Liebe immer das Sicherste doch
Und wir wissen ja: Es wird sie nicht immer geben
Aber jetzt scheint der Mond über Soho noch.

Brechts nur wenig später (1928) entstandenen, schon im Stil der Neuen Sachlichkeit gehaltenen Verse thematisieren den Mond von Soho, dem Stadtteil von London, in dem er auch seine Dreigroschenoper spielen lässt und den er als einen Ort des Vergnügens, der Kriminalität, der Käuflichkeit aller Waren und Gefühle und somit auch der der Liebe, den Ort geheimer Süchte und Sehnsüchte darstellt. Und der Mond von Soho ist in den traurigen, unsicheren Zeiten, von denen Brecht spricht, „das Sicherste noch“.

Schon gelten frühere romantische oder romantisierende Liebesvorstellungen nicht mehr, vor allem die Aspekte der ewigen Dauer und Ausschließlichkeit einer Liebesbeziehung werden relativiert –  aber noch vermag der Mond den letzten Abglanz utopischer Funken dieser Liebeskonzeption zu bewahren und diese insgeheim wachzurufen. (Die Verse bilden übrigens den Abschluss von Brechts Ehesong, in dem er recht pragmatisch die Vorteile des Ehe-stands für Sicherheit und Behaglichkeit so sehr ironisiert, wie er sie als behaglich anpreist.)

Der Mond auf dem noch im Jugendstil verankerten Exlibris Juliberts hingegen scheint auf ein edleres, vornehmeres Ambiente, das vielleicht im brunnenreichen Barcelona zu verorten wäre, der Stadt, in der der Künstler 1898 geboren und 1977 gestorben ist, zu verweisen. Doch übereinstimmend mit dem Gedicht ist, dass auch hier der Mond bei allem Zweifel, aller Schwermut und Trauer Sicherheit zu geben, Wege und Hoffnung aufzuzeigen scheint. Denn recht entschlossen reckt die junge Frau ihren Kopf in die Höhe und blickt offenen Auges auf das, was da kommen mag oder wohin sie gehen wird.

Ulrike Ladnar

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