Exlibris des Monats Mai 2022 – „Wie in einem Spiegel“ von Ferdinand Götz

Exlibris des Monats für Mai 2022
Ferdinand Götz: Eigenexlibris, um 1900, 2-farbiges Klischee

Schriftliche oder mündliche Kontakte geben einem Exlibriskünstler einen Einblick über Vorstellungen und Wünsche, die ein Eigner in einem für ihn geschaffenen individuellen Buchzeichen verwirklicht sehen will. Auch der Schöpfer dieser Kleingrafiken ist meist selbst ein Freund von Büchern, die sich entsprechend seiner Interessen zu einer kleineren oder größeren Sammlung anhäufen. Gestaltet er dafür ein Exlibris, wird er zwangsläufig zu seinem eigenen Auftraggeber. Er muss dann mit sich selbst ins Reine kommen und entscheiden, welches Motiv und welche Einzelheiten für ihn von Bedeutung sind. So entsteht ein sog. Eigenexlibris, Ferdinand Götz macht es nicht nur im Namen deutlich, er fügt noch ein „Exlibris meis“ dazu. Man fühlt sich sofort in die Epoche des Art Nouveau versetzt, die hierzulande als Jugendstil bekannt wurde. Nur wenige Details, aber viel freie Fläche sind hier bestimmende Merkmale: eine glatte Wasserfläche, deren Horizont weit nach oben geschoben ist. Darin ein nach rechts versetzter großer Felsblock, auf dem einsam eine nackte männliche Figur versonnen in den mit goldener Farbe gedruckten Wasserspiegel blickt. Indem er sich gebückt nach vorne lehnt, kann er sein klares Spiegelbild erkennen, wobei die Arme den Kopf abstützen und er eine entspannte Körperhaltung einnehmen kann. Dabei hält er vorsichtig die Füße nahe an der Wasseroberfläche, denn die kleinste Berührung würde die Spiegelung zerstören.
Im Vordergrund sehen wir also das gespiegelte Konterfei, der blanke Fels mit dem darauf Sitzenden bildet den mittleren Bereich, darüber ein schmaler Himmel, der als Hintergrund die Staffelung in die Tiefe abschließt. Durch die goldene Fläche auf der linken Seite werden alle drei Ebenen des Bildes miteinander verbunden.
Warum hat sich Ferdinand Götz diese Szene für ein Eigenexlibris ausgesucht? Ist es das Erkennen, was das eigene Antlitz über den inneren Zustand verrät? Der Künstler hat anstelle eines Selbstbildnisses eine Figur aus der griechischen Mythologie gewählt: Es geht hier um Narciss (lateinisch Narcissus), einen attraktiven jungen Mann, mit dem sich der Künstler in

seinem Eigenexlibris auseinandersetzt. Der römische Dichter Ovid hat in seinen Metamorphosen diese Geschichte umfassend in Hexametern beschrieben. Frauen und Männer begehrten den Goldgelockten, doch der ließ keine Liebe zu. Sein Stolz war so unermesslich groß wie seine Schönheit. Eines Tages beugte er sich über einen Teich, sah darin sein Spiegelbild und verliebte sich sofort darin. Tag und Nacht am Ufer verbleibend, verzweifelte er immer stärker, weil das wundersame Traumbild ihm keine Antwort gab. Beim Versuch, das Bild im Wasser zu küssen, verliert er das Gleichgewicht und ertrinkt. Der Mythos Narciss hat zahlreiche Künstler inspiriert. Das bekannteste Gemälde schuf der berühmte Maler des italienischen Frühbarocks, Michelangelo Merisi, gen. „Caravaggio“. Auch dieses Ölbild zeigt einen jungen Mann, der sein Spiegelbild im Wasser bewundert. Vielleicht hat Ferdinand Götz durch dieses Bild eine Anregung für sein Exlibris meis erfahren.
Eitle und selbstverliebte Zeitgenossen mit arrogantem Auftreten und fehlender Empathie gelten allgemein als Narzissten. In den Medien spricht man schon von einer „Narzissmus-Epidemie“. In allen Schichten unserer Gesellschaft kann man jüngeren und älteren Egozentrikerinnen und Egozentrikern begegnen, sei es im Fernsehen, im Internet oder auf der Straße. In Reality- und Castingshows setzen sie sich mit Visionen als zukünftige Top-Models oder als Welterklärer in Szene. Man findet sie in sozialen Netzwerken, in denen täglich fast 100 Millionen Bilder geteilt werden, unzählige davon mit dem wichtigsten Motiv unseres digitalen Lebens: dem Selfie. Damit hat das Eigenexlibris von Ferdinand Götz nichts zu tun. Es war primär für die eigene Bibliothek gedacht.

Der 1874 in Fürth geborene Ferdinand Götz war Architekt und Kunstmaler und zog 1895 nach München, wo er für die „Meggendorfer Blätter“ und die „Fliegenden Blätter“ als Zeichner und Karikaturist arbeitete. Als „Volljude“ wurde ihm die Mitgliedschaft in der Reichskammer der Bildenden Künste verweigert, weshalb er ab 1936 im Ausland und zuletzt in Paris lebte, wo er 1941, vermutlich durch Suizid, starb.
Narcissus ist auch der wissenschaftliche Name einer Pflanzengattung, die zur Familie der Amaryllisgewächse (Amaryllidaceae) gehört. Man bezeichnet diese auch als Blumen der Eitelkeit und erinnert somit an den mythischen Helden, denn an der Stelle, wo er zu Tode kam, fand man der Überlieferung nach keinen Leichnam, sondern nur diese Blumen mit gelben und weißen Blütenblättern. Sie blühen von Mai bis Mitte Juni und gelten als zerbrechlich und sehr schön. Im Land um Bad Aussee, einer reizvollen Region im Nachbarland Österreich, blüht die weiße sternblütige Narzisse. Jedes Jahr findet dort im Mai das Narzissenfest, das größte Blumenfest des Landes, statt. Die wild wachsenden Blumen schmücken die Blumenwiesen und verwandeln die idyllische Berg- und Seenlandschaft in ein duftendes Blütenmeer. Gelb, weiß, grün – so weit man sehen kann. Somit passt dieses Buchzeichen als „Exlibris des Monats“ besonders gut für den Mai.

Heinz Neumaier

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