Exlibris des Monats Juni 2021 – Carl Otto Czeschka: CARPE DIEM

Exlibris des Monats Juni 2021 – Carl Otto Czeschka für Adolf Glüenstein, 1905, Lithografie

CARPE DIEM: Auf seinem Exlibris für Adolf Glüenstein hat Carl Otto Czeschka (1878–1960) dieses Motiv nicht nur gezeichnet, sondern es auch noch wie einen Titel über den Bildteil geschrieben, dorthin, wo auf fast allen anderen bekannten Blättern des Wiener Jugendstilkünstlers das Wort EXLIBRIS zu lesen ist. Betrachter*innen müssen das Thema also nicht aus dem Bildanteil erschließen, sondern der Künstler gibt ihnen eine eindeutige Botschaft mit, die er vermutlich so auch mit dem Eigner, dem bedeutenden Hamburger Kunstsammler Adolf Glüenstein abgesprochen hat.

Man sieht eine schöne junge Frau, die einen Blumenstrauß in den Armen hält, der so groß und opulent ist, dass sie ihn kaum zu umfassen vermag. In ihrem fast durchsichtigen Kleid aus zartem, mit Blumen besticktem Stoff scheint sie eine Einheit mit dem Strauß zu bilden; so kann man nicht von jeder Blume sagen, ob sie zum Stoff gehört oder im Strauß steckt oder bereits von dort herabfällt wie vereinzelte stilisierte Tulpen im rechten unteren Bildviertel. Verwelkende Blumen gehören ja zum festen Bildinventar des antithetischen Motivs, der MEMENTO-MORI-Warnungen, so dass man durch sie auch an die Ursache vieler CARPE-DIEM-Appelle erinnert wird, wie sie von Horaz vor ca. 2000 Jahren, genauer: 23 v. Chr., formuliert wurden:

„Ganz gleich, ob Jupiter dir noch weitere Winter zugeteilt hat oder ob dieser jetzt,
der gerade das Tyrrhenische Meer an widrige Klippen branden lässt, dein letzter ist,
sei nicht dumm, filtere den Wein und verzichte auf jede weiter reichende Hoffnung!
Noch während wir hier reden, ist uns bereits die missgünstige Zeit entflohen:
Genieße den Tag, und vertraue möglichst wenig auf den folgenden!“*

Die korrekte Übersetzung von carpere ist ja eigentlich pflücken, nicht nutzen. Die vor allem hedonistische, also am egoistischen und rastlosen Lebensgenuss orientierte Auslegung wird der Sentenz somit nicht gerecht, beinhaltet doch der Ausdruck Pflücken des Tages eher eine achtsame Haltung, wie man heute sagen würde, eine Zuwendung auf das, was die Natur oder eben auch das Leben einem gibt, die dankbare Wahrnehmung von beglückenden Erfahrungen und Augenblicken, selbst wenn sie auf den ersten Augenblick unscheinbar erscheinen.

Auf dem Exlibris von Carl Otto Czeschka verliert der Rat, den Horaz der traurigen und besorgten Leukonoë in der gleichnamigen Ode gibt, sowohl seinen konkreten dramatischen Ursprung (Ausgesetzt-Sein an Naturgewalten, Wahrnehmung der verrinnenden Zeit) als auch seine konkreten Inhalte (die knapp bemessene Lebenszeit zu genießen, statt die Zeit durch Klagen zu verschwenden oder künftige Freuden zu erwarten). Czeschka zeigt uns eine schöne Frau – man denkt gleich an die Göttin Flora –, die ihre Blumen eher gleichmütig als besorgt präsentiert; für jede herabfallende Blüte öffnet sich an anderer Stelle eine Knospe. Die beglückenden Erlebnisse, zu denen die schöne Frau mit ihrem Blüten-Überfluss motivieren will, sind allerdings eher solche des Genusses der Kunst und der Schönheit als solche des Lebens in und mit der Natur.

Auf dem Carpe-diem-Exlibris Czeschkas kann man fast exemplarisch erkennen, was die Kunst und den Stil seiner Zeit ausmacht. Heute werden manche den Bildinhalt und die die stilisierte Darstellung als eher altmodisch und etwas zu süßlich empfinden, de facto aber beinhaltete der Jugendstil, wie er sich um 1900 allenthalben in Europa ausbreitete, einen geradezu revolutionären Neuanfang und einen völligen Bruch mit überkommener Kunst, wie sie sich in den Augen junger Künstler im Historismus darbot. Dessen Prinzip der Nachahmung traditioneller Muster wurde jetzt eine einfache Linienführung entgegengesetzt, die zwar auch der Natur (Pflanzenumrisse, Wellen usw.) entnommen wurde, durch Reduktion einerseits und eine Neigung zum Ornamentalen andererseits aber eine 

gewisse Abstraktheit erlangen konnte. Das alles sieht man auf Czeschkas Buchzeichen. Schwungvolle Linien bewegen sich fast ornamental durch die linke, sonst leere Bildhälfte, sie lässt sich an den Blumenstilen des Straußes und denen des Kleides nachweisen, die Haare der Frau weisen ebenfalls Wellen auf. Und auch die Buchstaben in den beiden Textfeldern weisen Elemente des Ornamentalen auf.

Carl Otto Czeschka, der sich im Wien der Jahrhundertwende zu einem typischen Jugendstilkünstler und bedeutenden Lehrer der dortigen Kunstgewerbeschule entwickelt hat, hat übrigens ab 1907 sein Glück anderswo gesucht; er ist 1907 nach Hamburg übersiedelt, um dort als Künstler und auch als Lehrer seine Ideen vom Schönen in der Grafik, der Buchillustration, im Entwerfen von Schmuck, Gobelins, Glasfenstern, Bühnenbildern, Kostümen usw. weiter zu entwickeln.

Uns allen wünsche ich nach einem regnerischen und oft kalten Mai einen schönen Juni, der reich an Sonne und an blühenden Wiesen ist. Derzeit sieht es sogar so aus, als würde der Juni uns noch mit anderen Glücksmöglichkeiten erfreuen, mit vielen Lockerungen der Einschränkungen unseres Lebens nämlich, die wir dann auch im wörtlichen Sinne von Horaz‘ CARPE DIEM genießen sollten: Pflücke den Tag!

*Gewählt habe ich hier eine sehr textnahe Übersetzung, gefunden bei Wikipedia: Carpe diem – Wikipedia, (19.5.2021)

Ulrike Ladnar

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