Exlibris des Monats Mai 2021 – Josef Werner: Himmel und Erde

Exlibris des Monats Mai 2021 – Josef Werner für J. Burch, 2007, Radierung (C3+C4+C5/2/col)

Kennen Sie einen Nachtwindhund? Oder ein Neumondweib? Nein? Eine Mitternachtsmaus vielleicht? Ein ästhetisches Wiesel? Oder ein Galgenkind? Inzwischen ist Ihnen bestimmt der Name des Poeten eingefallen, der all diese Geschöpfe erfunden hat: Es ist Christian Morgenstern, dessen Geburtsjahr sich am 6. Mai 2021 zum 150. Mal jährt.

Christian Morgenstern wurde 1871 in München geboren; sein Vater war Maler, ebenso seine beiden Großväter, der Großvater väterlicherseits sogar ein recht berühmter. Als Morgenstern zehn Jahre alt war, starb seine Mutter an Tuberkulose. Vermutlich hatte er sich damals bereits bei ihr angesteckt, denn bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1914 nämlich litt er an einem schweren Lungenleiden. Schon in seiner Jugend zwang ihm sein Leiden häufig längere Erholungs- und Kuraufenthalte auf, so dass er immer wieder seine Schul- und später seine Universitätsausbildung unterbrechen musste, 1893 musste er sein Studium aufgeben.
Bereits in seiner Schulzeit begann Morgenstern zu schreiben; es entstanden Trauerspiele, eine humoristische Studie und philosophische und journalistische Beiträge. Ab 1894 lebte Morgenstern in Berlin, wo er für zahlreiche renommierte Zeitschriften schrieb. Bald waren auch Verlage an ihm interessiert; seit 1895 veröffentlichte er seine Werke bei anerkannten Verlagen, u. a. bei Bruno Cassirer, wo er auch als Lektor tätig war und Robert Walser als Buchkünstler förderte. Dieser entwarf auch den Umschlag für Morgensterns Galgenlieder im Jahr 1905. 
Doch diese erfolgreiche Karriere konnte er aufgrund immer längerer Pausen in klimatisch für ihn günstigeren Orten in der Schweiz und anderswo nicht weiter fortsetzen. In dieser Zeit richtete sich sein Interesse an Philosophie immer mehr auf anthroposophische und theosophische Themen. 

Morgenstern, seit 1910 mit der gleichgesinnten Margarete verheiratet, befreundete sich eng mit Rudolf Steiner. Seine letzten Lebensjahre waren geprägt von seiner Krankheit, doch er nutzte konsequent nach wie vor jede gute Stunde zum Schreiben und Planen von neuen Projekten. Gestorben ist er in Untermais bei Meran; seine Urne bewahrte Rudolf Steiner, bis sie in dem neuen Goetheanum der Anthroposophischen Gesellschaft ihren Platz finden konnte.
Seine Frau verwaltete seinen umfangreichen Nachlass; bis zu seinem Tod war allenfalls die Hälfte seines Werks veröffentlicht. Doch seine ernsten philosophischen und anthroposophischen Werke stießen nie auf eine breitere Resonanz. Christian Morgenstern war zu Lebzeiten der Dichter komischer Verse, und das ist er bis heute im kulturellen Gedächtnis geblieben: der fantasiereiche Dichter, der groteske Dichter, der Dichter, der zeigt, dass die Fantasie über alle Logik siegen kann, aber auch über alle Unzulänglichkeiten der Realität, denen sie selbstbewusst ihre eigene Welt mit ihrer eigenen Logik entgegenstellt. Von Morgenstern wird das im Vorwort zu den Galgenliedern so beschrieben: „Die Galgenpoesie ist ein Stück Weltanschauung. Es ist die skrupellose Freiheit des Ausgeschalteten, Entmaterialisierten, die sich in ihr ausspricht. [ …] Man sieht vom Galgenberg die Welt anders an, und man sieht andre Dinge als Andre.“

Dass Josef Werner sich häufig auf eine Sicht vom Galgenberg aus einlässt, macht einen großen Teil der Freude aus, mit der man seine Grafiken betrachtet. Auf der Website des 1945 geborenen und sehr anerkannten und beliebten Künstlers kann man lesen, dass seine „skurrilen Gebilde“ einer fast grenzenlosen Fantasie entspringen: „Es ist wie ein Eintreten in eine andere, nicht wirklich existente Welt, in der eine unbändige Lebensfreude herrscht

und ein tiefgreifender Humor Kraft gibt, um das Dasein voller Widersprüche und Absurditäten besser und gelassener zu ertragen.“ (Hans Peter Adolph). Kein Wunder, dass man auf seinen Exlibris nicht nur Fabelwesen trifft, die er selbst erdacht hat, sondern häufig auch auf solche stößt, die er in Gedichten von Christian Morgenstern entdeckt hat, so beispielsweise alle einleitend angesprochenen seltsamen Wesen Morgensterns. Auf dem für den Monat Mai ausgewählten Exlibris für J. Burch findet man den Nachtwindhund, das Neumondweib und einen Forstadjunkten. Letzterer läuft brav und wohl seinem Beamteneid folgend in der Mitte eines Wegs, der in der Mitte eines Tals zwischen Bergen ins Nirgendwo zu führen scheint, die Dramatik der Geschehnisse in der Galgenwelt, das, was sich über ihm an Leidenschaft zwischen dem liebessehnsüchtigen Nachtwindhund und dem verführerischen Neumondweib abspielt, bleibt ihm verschlossen. – Uns hat es Josef Werner mit seiner spielerisch ins Bild gesetzten Szene erschlossen.

(Ulrike Ladnar)

Himmel und Erde

Der Nachtwindhund weint wie ein Kind,
dieweil sein Fell von Regen rinnt.

Jetzt jagt er wild das Neumondweib,
das hinflieht mit gebognem Leib.

Tief unten geht, ein dunkler Punkt,
querüberfeld ein Forstadjunkt.

(Christian Morgenstern)

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